Diversity Recruiting: Tipps für mehr Inklusion im Bewerbungsprozess

Immer mehr Firmen schreiben sich das Thema „Diversity“ auf die Fahnen, um mehr Vielfalt in ihr Unternehmen zu bringen. Aber was bedeutet eigentlich Diversity im Arbeitskontext und wie lässt sich Diversity Recruiting umsetzen und mit dem Cultural fit vereinen?

Was ist Diversity Recruiting?

Warum ist Diversity Recruiting im Unternehmen wichtig?

Cultural Fit vs. Diversity: Vereinbarkeit und Abgrenzung

5 Tipps für mehr Inklusion im Bewerbungsprozess

          Baue unbewusste Vorurteile ab

          Prüfe Stellenausschreibungen und Web-Auftritt

          Baue eine inklusive Personalpolitik aus

          Schaffe barrierefreie Arbeitsbedingungen

          Fördere religiösen Respekt

Diversity Recruiting für mehr Integration und Teamspirit

Was ist Diversity Recruiting?

Auch 16 Jahre nach Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) gibt es immer noch Defizite beim Umgang mit Vielfalt in Unternehmen. Diversity im Recruiting bedeutet vor allem, soziale Gerechtigkeit auch im Arbeitsalltag zu leben. Eine diverse Arbeitskultur beinhaltet nicht nur die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, sondern ebenso die unvoreingenommene Gleichbehandlung egal welchen Alters, welcher sexuellen Orientierung, Religion, Nationalität oder Behinderung.

Natürlich handelt es sich immer noch um leistungsorientiertes Recruiting, das darauf abzielt, die bestmöglichen Kandidat:innen zu finden. Sie sollte jedoch so strukturiert sein, dass alle Bewerber:innen die gleichen Chancen erhalten. Das bedeutet unter anderem, dass der Recruitingprozess weitestgehend frei von Unconscious bias, also unbewusster Voreingenommenheit, sein sollte. Bewusste sowie unbewusste Stereotype und Vorurteile dürfen nicht über die Auswahl geeigneter Kandidat:innen entscheiden. Dass das häufig nicht gut funktioniert, spüren viele Menschen am eigenen Leib. Auch verschiedene Studienergebnisse machen deutlich, dass Diversity oft schon im ersten Recruiting-Schritt scheitert.

Warum ist Diversity Recruiting im Unternehmen wichtig?

Wichtig ist Diversity Recruitment in erster Linie deswegen, weil kein Mensch aufgrund seines Hintergrunds diskriminiert werden und die Welt ein offener und toleranter Ort sein sollte. In einer Studie aus dem Jahr 2020 gibt fast ein Drittel der Arbeitssuchenden und Beschäftigten an, dass sie nicht bei einem Unternehmen arbeiten würden, in dem es an Vielfalt in der Belegschaft mangelt. Der Aufbau von Teams aus qualifizierten Bewerber:innen unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion oder sexueller Orientierung ist längst überfällig und ein Schritt in Richtung Gleichberechtigung am Arbeitsplatz.

Inklusion sichert Fachkräfte

Abseits davon kann es Unternehmen auch dabei helfen, innovativer und kreativer zu werden. Man muss sich nicht einmal viele Statistiken ansehen, um zu verstehen, dass Vielfalt in der Belegschaft auch gedankliche Vielfalt mit sich bringt. Unterschiedliche Denkweisen können zu mehr Innovation führen. Ein weiterer wichtiger Punkt in Zeiten des Fachkräftemangels: Inklusion sichert Fachkräfte!

Cultural Fit vs. Diversity: Vereinbarkeit und Abgrenzung

Einige Personaler:innen sind besorgt, dass sich die Einstellung auf Grundlage des Cultural Fits negativ auf die Vielfalt innerhalb ihres Unternehmens auswirken könnte oder umgekehrt. Das Problem liegt hier aber eher im falschen Verständnis und der falschen Definition von „Cultural Fit“. Denn auch wenn Menschen dazu neigen, sich selbst ähnelnde Menschen einzustellen, bedeutet kulturelle Passung nicht, dass Bewerber:innen den Chefs oder Recruiter:innen auf irgendeine Art und Weise ähnlich sein sollten. In diesem Fall ließe „Cultural Fit“ viel Platz für Diskriminierung und Rassismus.

Auch ähnliche Interessen oder Hobbys spielen keine Rollen, genauso wenig müssen alle Mitarbeiter:innen gewillt sein, sich nach Feierabend noch auf ein Bier zu treffen. Das Konzept „Cultural Fit“ zielt viel mehr darauf ab, Menschen zu finden, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit im Unternehmen wohlfühlen werden. Und das aufgrund von persönlichen Werten, den eigenen Antrieben, Motivatoren und Ambitionen im Arbeitskontext. Diese Faktoren gehen über persönliche Merkmale wie die Herkunft, das Geschlecht, das Alter oder die sexuelle Orientierung hinaus und dürfen deswegen keinerlei Einfluss auf den Cultural fit haben. Wichtiger ist es, dass das Unternehmen Inklusion und Vielfalt im Arbeitsalltag lebt und sichtbar macht.

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5 Tipps für mehr Inklusion im Bewerbungsprozess

1. Baue unbewusste Vorurteile ab

Die Psychologie hat bereits zahlreiche systematische Fehler in Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale in Recruiting-Prozessen aufgedeckt, die durch intuitive Einschätzungen auftreten: Während attraktive Menschen unbewusst überschätzt werden oder große, kräftige Bewerber:innen führungsstark wirken, werden Personen mit Akzent oder sichtbarem Übergewicht häufig als undiszipliniert oder fauler bewertet.

Im Laufe unseres Lebens sammeln wir Denkmuster, die unser Gehirn in verschiedenen Situationen anwendet – manchmal richtig, manchmal falsch. Entsprechende Erfahrungen verknüpfen wir mit Assoziationen, die unbewusst unsere Denkprozesse steuern und unser Verhalten beeinflussen. Folglich sind „Unconscious Bias“, also unbewusste, in die Kandidatenbewertung einfließende Vorurteile, im klassischen Bewerbungsverfahren eher die Regel als die Ausnahme. Von Unconscious Bias und unbewussten kognitiven Verzerrungen getäuscht, treffen Personaler:innen Entscheidungen, die objektiv betrachtet unfair und sogar diskriminierend und nicht zuletzt zum Nachteil des Unternehmens sein können.

Das Ähnlichkeits-Bias beschreibt außerdem das Phänomen, dass Menschen Menschen bevorzugen, die ihnen selbst ähnlich sind. Das führt zu Personalentscheidungen, die lediglich auf sozialen oder persönlichen Merkmalen basieren. Wie beim Cultural Fit erwähnt, dürfen diese Art der Kriterien keine Einstellungsgründe sein. Eine Möglichkeit, um Unconscious Biases im ersten Recruitingschritt zu vermeiden, ist das Ermöglichen einer digital gestützten und anonymen Bewerbung.

Um Vorurteile aufzulösen und in Zukunft zu vermeiden, sollte das eigene Verhalten und das der Mitarbeiter:innen reflektiert und hinterfragt werden:

Woher könnte dieses mögliche Vorurteil stammen?
Wo und wie habe ich gelernt, so zu reagieren?
Welche kulturellen Werte sind mit meiner Interpretation und Bewertung verbunden?
Inwieweit unterscheidet sich diese Person überhaupt von anderen Bewerber:innen und welche Werte sind mit meiner Interpretation und Bewertung verbunden?

Auf diese Art kannst du unbewussten Vorurteilen begegnen, dir ihrer klar werden und gegebenenfalls andere Schlüsse ziehen. Durch das Hinterfragen und den aufgebauten Erfahrungsschatz werden Unconscious Biases im besten Fall sukzessiv aufgelöst.

2. Prüfe Stellenausschreibungen und Web-Auftritt auf inkludierende Ansprache

Viele Menschen sind immer noch von inkludierender Sprache genervt und versuchen den Sinn zu widerlegen, indem sie beteuern, dass im generischen Maskulinum alle Personen eingeschlossen sind. Zahlreiche sprachwissenschaftliche und psychologische Studien zeigen, dass Frauen zwar häufig „mitgemeint“, jedoch selten „mitgedacht“ werden. Bis in die 1990er Jahre hinein waren Berufsbezeichnungen überwiegend maskulin und spiegelten die damalige Realität wider. Die Berufswelt ist mittlerweile zum Glück nicht mehr nur Männern vorbehalten!

Sprache prägt unsere Wahrnehmung und wir können mit einem sensibleren Sprachgebrauch dazu beitragen, diese veränderten gesellschaftlichen Strukturen auch abzubilden. Im Grunde ist es ganz einfach: Beim Gendern geht es um die Sichtbarkeit aller. Wer unsichtbar bleibt, bleibt oft unbedacht. Wenn du zeigen möchtest, dass in deinem Unternehmen alle Menschen willkommen sind, solltest du sie ansprechen. Wie du das machst, bleibt dir überlassen, solange du das AGG (Allgemeine Gleichstellungsgesetz) im Hinterkopf behältst.

Doch nicht nur Sprache, sondern auch das Bild- oder Videomaterial macht Diversität auf deiner Webseite sichtbar. Ein gutes Beispiel hierfür bietet Siemens. In seinen Stellenanzeigen kommuniziert das Unternehmen ganz klar, dass es Wert auf Chancengleichheit legt und sich über Bewerbungen von Menschen mit Behinderungen freuen. Ein Link führt direkt auf die Karriereseite mit dem Schwerpunkt „Inklusion“ und dem Slogan „Innovation kennt keine Barrieren“. Kolleg:innen mit verschiedenen Behinderungen erzählen über sich und ihre Arbeit bei Siemens und werden somit sichtbar.

 

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Möchte man mehr Frauen für seine Positionen ansprechen, gibt es noch mehr Kniffe im Umgang mit der Sprache, als das geläufige und offensichtliche Gendern. Auch die gezielte Ausgestaltung und Formulierung der Stellenanzeige mit genderspezifischen Persönlichkeitseigenschaften beeinflusst die Bewerberreaktionen.

Studienergebnisse zeigen, dass sich Frauen von stereotypen “maskulinen” Eigenschaften weniger angesprochen fühlen, als von “femininen” oder “neutralen” Eigenschaften. Zu den maskulinen Eigenschaften in Stellenanzeigen zählten in der Studie zum Beispiel Durchsetzungsvermögen, Verhandlungsgeschick oder analytisches Denken.
Zu den femininen bzw. neutralen Eigenschaften zählten Kommunikationsfähigkeit, Kreativität, Teamfähigkeit und verständnisvoller Umgang mit anderen. Über diese Zuordnung an Eigenschaften lässt sich streiten, jedoch spiegelt sie für viele nach wie vor die Realität wider und wird den Geschlechtern zumindest zum Teil von kleinauf mit anerzogen.

Weibliche Probandinnen sahen sich als weniger geeignet für die ausgeschrieben Stellen, wenn diese Eigenschaften gefordert waren, während sich männliche Probanden (oh Wunder) grundsätzlich bei allen geforderten Eigenschaften als geeignet sehen. Daraus resultiert, dass Unternehmen die meisten Personen ansprechen können, wenn sie neutrale genderspezifische Eigenschaften in ihren Stellenausschreibungen fordern. Wer seine eigene Stellenanzeige mal auf genderspezifische Sprache untersuchen möchte, kann dafür den Decoder der Technischen Universität München nutzen: FührMINT Gender Decoder der TU München.

Diversity Recruiting
Vielfalt in der Belegschaft kann auch zu gedanklicher Vielfalt führen. Unterschiedliche Denkweisen führen zu mehr Innovation. ©unsplash.com/@wocintechchat

3. Baue eine inklusive Personalpolitik aus

Diversity Recruiting funktioniert nur unter Berücksichtigung von unterschiedlichen Hindernissen bei der Ausbildung, der Einstellung und der Weiterbeschäftigung von Menschen. Um Inklusion zu fördern, sollten Führungskräfte, Recruiter:innen und Hiring-Manager geschult werden, um unbewusste Vorurteile und Denkmuster abzulegen.

Je größer ein Unternehmen, desto wichtiger wird es außerdem, eine:n Inklusions-Beauftragte:n zu schulen, der oder die Ansprechpartner:in für Angestellte und Bewerber:innen ist. Die Deutsche Post DHL Group rief in Köln sogar eine eigene Inklusionsabteilung ins Leben, um Menschen mit Autismus zu beschäftigen. Mit einer kostenlosen Beratungshotline für Jugendliche mit Behinderungen und Social Media Kampagnen setzen sie bei der Nachwuchsförderung auf Diversity und Inklusion. Wer sich hier inspirieren möchte, sollte auf der Webseite „Inklusionspreis für die Wirtschaft“ vorbeischauen.

Fördernde Maßnahmen zur Gender Diversity haben laut Studienergebnissen außerdem eine positive Wirkung auf die wahrgenommene Arbeitgeberattraktivität. Unternehmen, die ein Engagement in Gender Diversity kommunizieren, signalisieren die hohe Bedeutung von Chancengleichheit und Diskriminierungsfreiheit und sorgen für eine positivere Wahrnehmung bei ihren Bewerber:innen.

4. Schaffe barrierefreie Arbeitsbedingungen

Ein barrierefreies Arbeitsumfeld ist wichtig! Hierzu zählen nicht nur barrierefreie Zugänge im Büro, sondern ebenfalls eine ergonomische Arbeitsplatzgestaltung und Ausstattung oder barrierefreie IT-Systeme und Bewerbungsmöglichkeiten. Die Möglichkeit zum Home-Office und flexible Arbeitszeiten sind übrigens auch bereits eine Hilfe: Denn so werden nicht nur Familien unterstützt, sondern auch Menschen mit physischen oder psychischen Einschränkungen, die ihre Tage besser planen und ihre Kräfte besser einteilen müssen.

5. Fördere religiösen Respekt

In Deutschland sind die christlichen Feiertage den meisten Arbeitgebern bekannt und viele sogar gesetzlich festgeschrieben. Wir arbeiten in Unternehmen aber mittlerweile immer internationaler und möchten auch in interkulturellen Teams oder bei weltweiten Geschäftskontakten niemanden ausschließen. Natürlich müssen nicht die Feiertage aller Weltreligionen auswendig gelernt werden, aber es ist wichtig, andersgläubigen Mitarbeiter:innen Urlaub an bestimmten Tagen zu ermöglichen. Bei Schichtplanungen könnten beispielsweise etwaige Feiertage für Muslim:innen, Jüdinnen und Juden und Buddhist:innen festgehalten werden, um diese besser zu berücksichtigen.

Diversity Recruiting für mehr Integration und Teamspirit

Akzeptanz, gegenseitiger Respekt und letztendlich die Förderung von Chancengleichheit stehen beim Diversity Recruitment im Vordergrund. Es sollte grundsätzlich ein Bewusstsein geschaffen werden, dass Vielfalt ein entscheidender Erfolgsfaktor für das Unternehmens sein kann. Denn auch potenzielle Bewerber:innen legen immer mehr Wert auf die menschlichen Zwischentöne eines Unternehmens. Dabei darf Diversity nicht nur ein schickes Label sein, das sich Unternehmen selbst verpassen, um nach außen etwas darzustellen. Inklusion muss gelebt werden und Arbeitgeber sollten sich Gedanken darüber machen, wie sie Diversity in ihrem Recruiting verankern können. Blindbewertungen, Schulungen, integrative Vorstellungsgespräche und insgesamt eine offenere Kommunikation sind hierfür gute Anhaltspunkte.Inklusion und Toleranz sind die moralische Verantwortung einer Organisation und spiegeln die Wertschätzung gegenüber allen Mitartbeiter:innen wider.

Wo sind die Frauen in der IT-Branche?

In der Tech-Branche herrscht Mangel: Qualifizierte Arbeitskräfte werden händeringend gesucht, wie unsere Branchenstudien der vergangenen Monate zeigen. Und der Bedarf wird weiter steigen, denn die Digitalisierung ist in vollem Gange und „dieses Internet“ und die damit verbundenen Technologien werden wohl entgegen einiger Meinungen übermorgen nicht wieder verschwunden sein. Auffällig an der Branche ist nicht nur der Mangel an Arbeitskräften generell, sondern vor allem an weiblichen. Wo sind die Frauen in der IT-Branche?

Infografik: Frauenanteil an den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in der IT

Der Anteil an IT-Spezialistinnen liegt hierzulande seit Jahren unverändert bei etwa 16 Prozent – 2020 waren es laut Bundesagentur für Arbeit 16,8. Diese geringe Zahl kann sich in Anbetracht des Bedarfs eigentlich niemand leisten. Trotzdem haben Unternehmen Schwierigkeiten, Frauen für ihre Jobs zu finden.

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FRAUEN SIND IN MINT-FÄCHERN UNTERREPRÄSENTIERT

Das Problem beginnt bereits vor dem Eintritt in den Arbeitsmarkt: Im Jahr 1990 gab es in Deutschland gut 136.400 Studierende in den so genannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik). 22,8 Prozent davon waren Frauen. 2019 hat sich die Zahl der Studierenden fast verdreifacht – der Frauenanteil stieg im selben Zeitraum um etwa 12 Prozentpunkte auf rund 34 Prozent – eine magere Steigerung in Anbetracht des Bedarfs.

Infografik: Männer- und Frauenanteil an den MINT-Studierenden in Deutschland

Dabei sind die MINT-Fächer noch einmal breit gefächert. Das Statistische Bundesamt zählt insgesamt 19 Studiengänge in den MINT-Bereich, sie reichen von Fächern wie Pharmazie, das bei Frauen sogar beliebter ist als bei Männern, bis hin zu Verkehrstechnik/Nautik, in dem die Frauen am stärksten in der Unterzahl sind.
Im Wintersemester 2019/20 sahen die Top und Flop 5 der MINT-Studiengänge bei Frauen wie folgt aus:

Infografik: Top und Flop 5 der MINT-Studiengänge bei Frauen

SO (UN)WEIBLICH IST DIE INFORMATIK-AUSBILDUNG

Die Informatik-Studiengänge gehören also zu denen im MINT-Bereich, die den größten Frauenmangel verzeichnen. Lediglich 21,8 Prozent der Erstsemester-Studierenden im Wintersemester 2019/20 waren weiblich.

Auch innerhalb der Informatik-Studiengänge zeigen sich noch einmal deutliche Differenzen. So liegt der Anteil der Frauen laut Daten des Statistischen Bundesamtes in Bioinformatik und Medizinischer Informatik bei über 40 Prozent. Am geringsten ist der Anteil in Ingenieursinformatik. Auch hier zeigt sich, dass es bestimmte Bereiche sind, die Frauen offenbar meiden: Je technischer, desto geringer ihr Anteil.

Infografik: Frauenanteil in Informatik-Studiengängen und -Ausbildungen in Deutschland

Noch deutlicher wird der geringe Frauenanteil bei den dualen Informatik-Ausbildungen, wie die Grafik zeigt. Hier ging die Zahl laut Daten des Bundesinstituts für Berufsbildung in den vergangenen 20 Jahren sogar deutlich zurück. Im Jahr 2019 lag der Frauenanteil an allen neu unterschriebenen IT-Ausbildungsverträgen bei gerade einmal 8,6 Prozent.

WENIG FRAUEN IN DER AUSBILDUNG – WENIG FRAUEN AUF DEM ARBEITSMARKT

Entsprechend wenig Frauen kommen im IT-Bereich überhaupt auf dem Arbeitsmarkt an. Die Verteilung innerhalb der Informatik-Studiengänge setzt sich im Berufsleben fort und reicht laut Bundesagentur für Arbeit von 36,7 Prozent Frauenanteil in Bio- und Medizininformatikjobs bis hin zu 10,5 Prozent in der IT-Systemadministration. Hinzu kommt, dass es sich bei den Berufen mit hohem Frauenanteil auch um diejenigen handelt, in denen die Beschäftigtenzahlen geringer sind. So waren 2020 in der Softwareentwicklung knapp 230.000 Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, in der Bio- und Medizininformatik lediglich knapp 1.500.

Infografik: Frauenanteil in Informatik- und anderen ITK-Berufen in Deutschland 2020

Genauso gering ist der Anteil von Frauen in Informatik und anderen IKT-Führungspositionen.

Infografik: Frauenanteil in IT-Führungspositionen in Deutschland in 2020

Es ist also kein Wunder, dass Unternehmen Schwierigkeiten haben, ihre Stellen mit Frauen zu besetzen – weibliche Fachkräfte sind schlicht nicht da.
Doch woran liegt das?

DAS GENDER EQUALITY PARADOX

Eine Studie der Leeds Becket University aus dem Jahr 2018 prägte mit ihren Ergebnissen einen Begriff zum Frauenanteil in MINT-Berufen: Das Gender Equality Paradox.
Eigentlich sollte man meinen, dass in Ländern, in denen das Geschlechterverhältnis gesellschaftlich gleichberechtigter ist, auch ein höherer Anteil an Frauen „typische Männerberufe“ ausübt. Die Studie konnte diesen Zusammenhang nicht bestätigen, sondern fand sogar eher das Gegenteil heraus: In Ländern, die weniger gleichberechtigt sind, ist der Anteil von Frauen in der IT zum Teil deutlich höher. Verglichen wurden dabei PISA-Ergebnisse von Ländern weltweit mit dem Global Gender Gap Index des World Economic Forum, also einem Gradmesser für die Geschlechtergleichstellung in den Ländern.

Eine These der Autor*innen der Studie lautete daraufhin, dass in wirtschaftlich schlechter gestellten Ländern ein IT-Job größere Aufstiegschancen biete und Frauen darum weniger geschlechterstereotype Berufe wählten als in Ländern, in denen auch die weniger gut bezahlten „frauentypischen“ Berufe einen gewissen Lebensstandard ermöglichen. Diese These untermauert das Stereotyp, dass Frauen, wenn sie die Wahl haben, nicht in techniklastigen Berufen arbeiten – und genau dieses Vorurteil ist viel eher das Problem, wie auch Folgestudien kritisierten.

GENDER EQUALITY HUI, FRAUEN IN DER IT PFUI?

Zunächst einmal bleibt es bei der Feststellung, dass die Anzahl der Frauen in der Informatik und anderen MINT-Fächern nicht automatisch steigt, wenn die Rahmenbedingungen in Ländern gleichberechtigter werden. Auf die EU übertragen bestätigt sich diese Erkenntnis, wenn man den Frauenanteil in IKT-Jobs mit dem jeweiligen Gender Equality Index der Europäischen Union vergleicht. Der Gender Equality Index misst, wie es um die Gleichstellung in einem Land steht. Mit einbezogen werden etwa die Verteilung der politischen Macht, Gesundheit, aber auch Finanzen oder Bildung und die Verteilung von Care-Arbeit.

Infografik: Anteil der Frauen in ITK-Jobs in 2020 und Gender Equality Index in der EU

Es zeigt sich, dass nicht jene Länder mit ausgeprägter Geschlechtergleichstellung auch die höchste Anzahl an Frauen in IT-Berufen haben. Schweden kommt im Jahr 2020 mit 83,8 Punkten EU-weit auf den höchsten Gleichstellungswert. Beim Frauenanteil in der IT liegt das Land mit 20,1 Prozent allerdings nicht in der Spitzengruppe. Diese setzt sich zusammen aus Bulgarien, Litauen und Lettland, gefolgt von Rumänien und Estland. Alle fünf Länder schneiden beim Gender Equality Index unterdurchschnittlich ab.

Die nicht vorhandene Korrelation zeigt sich in der Grafik in dem leeren weißen Feld rechts oben und der Häufung von Ländern mit hohem Equality Index im mittleren oberen Bereich und der Verteilung von Ländern mit geringem Equality Index im unteren Bereich.

YOU CAN’T BE WHAT YOU CAN’T SEE

Die bereits genannten Folgestudien machen soziale Faktoren für das Paradox verantwortlich: Fehlende Vorbilder und vermittelte Stereotype, nach denen Frauen im Feld der Mathematik schlechter seien, werden für die Geschlechterlücke im MINT- und damit IT-Bereich verantwortlich gemacht. Bei der Informatik kommt erschwerend hinzu, dass es an Schulen kein Pflichtfach ist, im Gegensatz zu Mathematik oder Naturwissenschaften. Die Tech-Branche ist stattdessen stark geprägt vom Stereotyp des männlichen Nerds, das Apple und Microsoft in den 80er-Jahren prägten.

Doch auch historische Gründe spielen eine Rolle beim Geschlechterunterschied: In den Ländern mit verhältnismäßig hohem IT-Frauenanteil wurde zur Zeit der Entstehung der Branche ein anderes politisches und wirtschaftliches System gelebt. Während hierzulande die so genannte Versorgerehe üblich war, waren berufstätige Mütter und Frauen in vielen osteuropäischen Ländern der Normalfall. Sie entwickelten die Tech-Branche mit und sind dadurch Vorbilder für die nachfolgenden Generationen geworden, so die These der amerikanischen Wissenschaftlerin Kristen R. Ghodsee, die an der University of Pennsylvania Russische und Osteuropäische Studien lehrt.

Diese These lässt sich auch am Beispiel Deutschlands belegen, das bis vor 30 Jahren politisch geteilt war. Bis 2011 wurden Beschäftigte im IT-Bereich unter der Kategorie „Datenverarbeitungsfachleute“ zusammengefasst. Darunter fielen etwa Computerfachmann oder -fachfrau, Datenverarbeiter*innen oder EDV-Fachkräfte. Der Anteil an Frauen in der IT war in den ostdeutschen Bundesländern deutlich höher als in den westdeutschen.

Infografik: Frauenanteil an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Bereich "Datenverarbeitungsfachleute"

Seit 2013 fasst die Bundesagentur für Arbeit IT-Jobs im Bereich „Informatik und andere IKT-Berufe“, zusammen. Darunter fallen etwa Fachinformatiker*innen, Programmierer*innen oder System-Administrator*innen. Die Daten zeigen, dass der Anteil an Frauen in IT-Jobs in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung deutlich zurückgegangen ist, aber, trotz der Annäherung, bis heute leicht über dem Wert von Westdeutschland liegt. Durch die Umstellung bei der Klassifizierung der Berufe lassen sich die beiden Zahlenreihen nur bedingt vergleichen. Ein Trend wird aber dennoch deutlich.

Infografik: Anteil der Frauen an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Bereich "Informatik und andere ITK-Berufe" in Ost und West

 

WENN DIE VORBILDER FEHLEN

Auch aktuelle Umfrageergebnissen zeigen, dass sich die Abneigung von Frauen gegenüber MINT-Studiengängen im Laufe der Schulzeit herausbildet: Die Wirtschaftsprüfung PwC befragte 2018 für ihren „Women in Tech“-Report Schüler*innen und Student*innen nach ihren Einstellungen zu MINT-Fächern. Wenn es um Vorbilder im Bereich Technologien und Wissenschaft geht, können nur elf Prozent der Befragten Frauen nennen, dagegen fällt 25 Prozent ein berühmter Mann aus dem Bereich ein.

Umfrage: Bekanntheit von weiblichen und männlichen Berühmtheiten der MINT-Branche
Quelle: PwC-Report: Women in Tech

Auch bei den Beispielen zeigen sich Unterschiede. So fallen unter den einflussreichen Männern die Namen von Mark Zuckerberg oder Elon Musk – Persönlichkeiten, die heute in dem Bereich tätig sind und als Unternehmer in Erscheinung treten. Unter den Frauen werden Ada Lovelace, Marie Curie und Lise Meitner genannt. Angela Merkel ist die einzige lebende Person und den meisten wohl eher als Bundeskanzlerin mit einem Doktor in Physik bekannt, denn als Wissenschaftlerin.

DIE EINSTELLUNG ZU MINT VERÄNDERT SICH WÄHREND DER SCHULLAUFBAHN

Interessant ist auch der Unterschied bei den Schüler*innen und Student*innen, wenn es um die Einschätzung der eigenen Neigung in Bezug auf MINT-Fächer geht: Die befragten Schülerinnen haben keinen Spaß an MINT-Fächern, sehen aber seltener eine mangelnde Neigung bei sich und halten die Fächer noch seltener für zu schwierig als die befragten Jungs.

Bei den Studierenden verändert sich das Bild: Zwar haben noch mehr Frauen keinen Spaß an MINT-Fächern, allerdings nimmt die Zahl derer zu, die keine Neigung bei sich sehen, während diese Zahl bei den Männern abnimmt. Auch halten deutlich mehr Studentinnen MINT-Fächer für zu schwierig als noch bei den Schülerinnen. Bei den Studenten nimmt der Anteil im Gegensatz zu den Schülern ab. Im Laufe der Schulzeit verändert sich also die Einstellung von Männern und Frauen zu MINT-Fächern, vor allem was Schwierigkeitsgrad und persönliche Neigungen angeht. Frauen wenden sich ab, Männer hin.

Infografik: Gründe, weshalb Schüler und Studierende kein MINT-Fach gewählt haben
Quelle: PwC-Report: Women in Tech

Allerdings kann man an der Umfrage bemängeln, dass vor allem die Fallzahlen für die Schüler*innen gering sind. Eine Studie des Internetgiganten Microsoft aus dem Jahr 2018 bestätigt allerdings, dass „ein entscheidender Faktor für die spätere Berufswahl, aber auch grundsätzlich für den Werdegang“ ist, ob Mädchen Vorbilder haben. Demnach ist das Interesse von Mädchen an MINT-Fächern zwischen 11 und 15 Jahren am höchsten, danach nimmt es ab. Befragt wurden 11.500 Mädchen in 12 europäischen Ländern. 60 Prozent gaben an, sie würden eine Karriere im MINT-Bereich verfolgen, wenn sie wüssten, dass zu gleichen Teilen Männer und Frauen darin beschäftigt wären. 56 Prozent sagen, sie könnten sich eine Karriere vorstellen, wenn sie ein Vorbild hätten.

WAS BEDEUTET DAS FÜR UNTERNEHMEN?

Wer weiblichen IT-Nachwuchs fördern will, sollte früh anfangen: Mädchen interessieren sich sehr wohl für MINT-Fächer, kommen aber mit fortschreitender Schullaufbahn zu der Überzeugung, weniger für einen Beruf in der IT geeignet zu sein. Außerdem fehlen ihnen die Vorbilder. Es reicht für Unternehmen nicht, sich auf politische Maßnahmen und gesellschaftlichen Wandel zu verlassen. Das zeigt das Gender Equality Paradox. Natürlich muss die Gleichstellung in allen Bereichen gefördert werden, aber vor allem müssen stereotype Zuschreibungen gleichzeitig abgebaut werden, nur dann trauen sich mehr Mädchen und Frauen eine MINT-Karriere zu.

Für Unternehmen bedeutet das: Macht eure Mitarbeiterinnen sichtbar, schafft Repräsentanz und sprecht Mädchen und Frauen möglichst früh an. Schafft Mentorinnenprogramme, arbeitet mit Schulen zusammen, engagiert euch in Initiativen, die sich an Schülerinnen richten. Zeigt Mädchen und Frauen, dass MINT weiblich ist und Mädchen rechnen, programmieren, forschen und konstruieren können.

Und fangt bei euch selbst an: Welche Zuschreibungen habt ihr in Bezug auf Geschlecht? Wem traut ihr was zu und wem eher nicht? Welche Vorurteile habt ihr und was lebt ihr Mädchen und jungen Frauen vor?

Und schlussendlich: Schafft Arbeitsbedingungen, die Karriere und Familienleben vereinbaren, davon profitieren nämlich alle Geschlechter.

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